Mit Tanja, der Direktorin der Zentralbibiliothek, Valentina und einigen Mitarbeiterinnen trinken wir Tee und diskutieren, welche Literatur geeignet wäre, um Borisoglebsk zu repräsentieren, in einem impressionistischen Sinn.
Einige lokale Autoren sollen vertreten sein, das sind sich alle einig: Zunächst der Kinderschriftsteller Juri Tretjakow, in Borisoglebsk geboren. Tanja scannt für mich die ersten Seiten von Das wilde Leben im Wald und wir basteln ein Heft daraus für die Ausstellung.
Juri F. Tretjakow: Käfer und Geometrie (Жук и геометрия), Woronesch 1953
Zwei Gedichte:
Igor Lukanow: Gedicht über die Flüsse Worona und Chopjor, veröffentlicht in дыханьЯ русского основа, Woronesch 2004.
F. H. Grijorjew: Gedicht über die alte Kaufmannsstadt Borisoglebsk (deren Name nicht genannt wird), über die Sehnsucht nach ihrer Behaglichkeit, nach Holzhäusern und Öfen, über die Vergänglichkeit, veröffentlicht in dem Band Alle hundert Wege (Все сто дорог)
Sehr wichtig ist allen dieses Buch:
Sergej M. Wolkonskij: Meine Erinnerungen (Мои воспоминания), erstmals veröffentlicht in Berlin 1923; 1992, 2004 und 2018 in Russland neu aufgelegt.
Dann wird überlegt. Tolstoi vielleicht, Tschechow auf keinen Fall. Aber unbedingt Turgenjew.
Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers (Записки охотника), zuerst erschienen 1852.
Iwan Bunin: Dunkle Alleen (Темные аллеи), zuerst veröffentlicht in einem russischen Verlag in New York 1943.
Konstantin Paustowski: Erzählungen vom Leben (Повесть о жизни), erschienen in sechs Bänden zwischen 1946 und 1963
Beschreibungen des Lebens in der russischen Provinz zu verschiedenen Zeiten. Im 19. Jahrhundert, vor der Revolution und in der Sowjetunion.
Das Museum gibt Auskunft über die zu vermutende ökonomische Lage der ehemaligen Bewohner der ausgestellten Bauernhöfe. Es gibt Tiere, es riecht nach Stall, es gibt Getreidefelder und Gärten mit Küchenpflanzen, unter ihnen der Schwarzkümmel.
Im Jugendzentrum kickern junge Männer in orangefarbenen Jacken vor dem Wandbild von Nelson Mandela. Sie arbeiten als Ansprechpartner der Verkehrsbetriebe, das heißt, sie fahren mit, sie sprechen die Leute an, sie versuchen, Gewalt und Beschädigung vorzubeugen. Wir setzen auf Dialog, sagen sie, nicht auf Bestrafung. Ich habe die unbesetzten Berliner S – und U -Bahnhöfe vor Augen und die angebotenen Belohnungen, wenn man Sitzpolsterzerstörer oder Fensterzusprayer meldet. Das französische Modell erscheint mir avanciert, und Samy und Axel erklären es.
Gespräch mit Samy Hamlati und Axel Youpehe, Agents de Médiation, SETRAM.
Rikke Revsholm´s list of books for Delmenhorst. She carefully chose books that were translated into German:
For the last 15 – 20 years there has been a strong trend in modern Danish literature, where the authors write very much about their own lives and their own upbringing. Often quite harsh stories, but also relatable to people on the level of details where you recognize specific brands of candy, certain songs, ways of dressing etc in the detailed writing and pinpoint the time and place by these things that we all experienced.
One writer is Erling Jepsen. He writes about a decidedly NOT happy childhood just a little south of Kolding in several books: Dreck am Stecken (2004, dt. 2006); Fürchterlich glücklich (2004, dt. 2010); Die Kunst im Chor zu weinen (2002, dt. 2007). Dark, Danish, with understated tragic comedy.
Knud Romer is of the same tradition. The story of growing up in small town Denmark – after WW2, with a German mother and the challenges and stigma that presented back then. Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod (2006, dt. 2007).
Denmark as a whole feels quite responsible for how the people of Greenland have been treated during the time Greenland has been part of the Danish Kingdom. Kim Leine has received great acclaim for his books about the life in Greenland – harsh books and a beautiful gripping writing style. Die Untreue der Grönländer (2009)
A female take on contemporary Danish novels: Helle Helle, Die Vorstellung von einem unkomplizierten Leben mit einem Mann (2002, dt. 2012); Ida Jessen, Wie ein Mensch (dt. 2003).
We have some excellent writers of children´s books in Denmark. Danes at the moment like children´s stories that deal with serious topics in a way that includes humour and a belief that children are capable of handling “big things” – also the things we don´t like to talk and think about. Two extremely popular authors: Jakob Martin Strid, Ein kleiner Frosch macht Ärger (2017); Herr Rumpelpumpel fliegt weg (2013). Kim Fupz Aakeson, Erik und das Opa-Gespenst (2005); Hugo und Hassan (2021).
Literatur, die hilft, sich Eberswalde vorzustellen, hat mein Freund Lars Fischer zusammengesucht und kommentiert:
Sighard Neckel: Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989, Campus 1999 Das Buch fußt auf vielen Gesprächen mit Menschen, die bis in die 1990er oder ab den 1990er Jahren Verantwortung in der Politik trugen oder sich nach der Wende für Eberswalde engagierten. Eine wohl einmalige Studie über „Elitenwechsel“ in einer Kleinstadt.
Wilhelm Bartsch: Übungen im Joch, Gedichte, Aufbau Verlag, 1986 Eine in Eberswalde aufgewachsene unverwechselbare lyrische Stimme der DDR, die auch nach der Wende etwas zu sagen hat. Das Joch auf unseren Schultern haben wir zu tragen, da gibt es kein Entrinnen, nur die Lasten, die wir mit uns schleppen, ändern sich.
Hennig Wagenbrett / Robert Louis Stevenson. Der Pirat und der Apotheker, 2012 Henning Wagenbrett ist Illustrator, von ihm stammt auch das berühmte Plakat Radfahrer haben nichts zu verlieren als Ihre Ketten. Mit Hennig habe ich in der Schule noch Basketball gespielt. Seinen Spielwitz, seine unverhofften Wendungen und Einfälle, das genaue Passspiel mit anderen Mitspielern hat er in seine Zeichnungen übernommen – oder war es umgekehrt? Ein Vergnügen ihm zuzuschauen.
Ulrich Grumnach: Die merkwürdigen Erwachsenen. Geschichten aus Alt-Eberswalde. Stadtkirchengemeinde Eberswalde, 1993 Ein Eberswalder mit Menschenkenntnis erzählt Geschichten, die in einer Stadtchronik keinen Platz finden. Amüsant und interessant.
Museum Eberswalde/ Knut Berger: Hallo! Hallo! Hier Eberswalde. Die Versuchsstation für drahtlose Telegrafie in Eberswalde, 1998 Leider hat es Eberswalde nicht geschafft, das kleine Häuschen am Alten Finowkanal zu erhalten, aus dem die ersten Konzerte in die weite Welt live übertragen wurden. So bleiben nur Literatur und ein paar Fotografien.
Begegnungszentrum Wege zur Gewaltfreiheit (Hrsg.): Garage Wunderlich. Aus der Nische in die Mitte – 25 Jahre Jazz in E. Jazz wurde in Eberswalde auch zu DDR-Zeiten gespielt, im Foyer des „Las Vegas“ zum Beispiel. So hieß das in den 1970er Jahren erbaute Kulturhaus zwischen Eberswalde und Finow, das um die Jahrtausendwende wieder abgerissen wurde. Conny Bauer Soloposaune, der mit seinen nachklingenden Tönen spielt, werde ich nie vergessen. In der Garage hat er auch solo gespielt. Zum Buch gibt es einen Film, „Die Aktivisten – wie der Jazz in die Stadt kam“ (Thomas Melzer und Antje Dombrowsky, D 2009). Thomas und Antje sei Dank für Buch und Film.
Hans Jörg Rafalski: Erosion. Spuren der Industriekultur im Finowtal, PapierWerken 2016 Der Titel sagt alles. Die Bilder erzählen viel.
Um Eberswalde, Chorin und den Werbellinsee. Eine landeskundliche Bestandaufnahme im Raum Eberswalde. Landschaften in Deutschland. Werte der Deutschen Heimat Band 64, Böhlau Verlag 2002 Dieser Band gehört für mich zu den Standardwerken, die in keiner Eberswalde-Bibliothek fehlen dürfen. Einen besseren Eindruck und Einblick in die Landschaft um Eberswalde gibt es bisher nicht. Und Rolf Schmidt, der die Erarbeitung des Buches geleitet hat, gehört unbestritten zu den Professoren, die die Hochschule der Stadt geprägt haben.
Aber über Eberswalde hinaus empfohlen, um ostdeutsche Provinzstädte – und das Leben in deren Plattenbauten – besser zu verstehen: Lütten Klein von Steffen Mau über ein Viertel in Rostock Kinder von Hoy von Grit Lemke Franziska Linkerhand, Brigitte Reimanns unvollendeter Roman aus dem Jahr 1974 über eine junge Architektin und die Planung von Neubaugebieten.
Mit dem Bus auf der Suche nach einer Partnerstadt In meiner Erinnerung war es Ende 1990, als sich Eberswalde für eine Partnerstadt in der BRD entschied. Angeboten hatten sich wohl Minden, Neuss und Delmenhorst, oder war da noch ein Kandidat? Ich weiß es nicht mehr genau. Auf Einladung dieser Städte fuhren unterschiedliche Eberswalder Bürger – im Mai 1990 frisch gewählte Stadtverordnete und Leute wie ich, die sich im Neuen Forum oder anderen neuen Initiativen und Parteien engagierten – im Bus auf kommunalpolitische Stippvisite in den Westen, um sich ein Bild zu machen. Ich fuhr einmal mit, und zwar nach Neuss, einer von der CDU regierten Gemeinde am Niederrhein. Dort sollten wir bei Stadtverordneten zu Gast sein. Ich fand mich am Abend in einem modernen Eigenheim im Bungalowstil wieder – flach, geräumig, große Fenster, Garten. Das Wohnzimmer holzgetäfelt, ich versank in der schweren Ledercouch und kam kaum an mein Glas auf dem kniehohen Couchtisch. Mir gegenüber ein gewichtiger Mann; akkurat gekleidet in Anzug mit Krawatte und in polierten Schuhen, kein Bild einer Frau, nur dieser Mann im Sessel mir gegenüber, CDU-Stadtverordneter. Was haben wir gesprochen? Ich weiß es nicht mehr. Er hat Weißwein eingeschenkt und dessen Qualität angepriesen, das ist bei mir hängen geblieben. Und ein Gefühl, irgendwie fehl am Platz zu sein, oder war es Fremdheit? Was wir sonst noch in Neuss erlebten und worüber wir im Bus zurück nach Eberswalde sprachen, und was die Gruppe den Eberswalder Stadtverordneten berichtete, es ist wie weggeblasen. Neuss ist es ja dann auch nicht geworden.
Die Zeichnung zeigt einen Bungalow im Wald, 2008 haben wir sie genutzt für ein Wandbild im Neubau des Bundesnachrichtendienstes in der Chausseestraße in Berlin, 55 m lang, 19 m hoch.
Nach 1989 hat sich kulturell alles neu sortiert. Die staatlichen Kulturhäuser und Institutionen fielen weg, viel gedanklicher Raum war neu zu besetzen. Die Bürgerrechtsbewegungen waren wichtig, die runden Tische, die Gewaltfreiheit, die theoretische Chance auf ein neutrales, waffenfreies Land. Die verschiedenen Gruppen haben sich ihre Orte gesucht.
Die Punks die Baracke am heutigen Familiengarten. Aus der Punk-Anarcho-Szene entwickelte sich das Kanaltheater. Die Feministinnen waren in der Brücke, die Indie-Rocker in der Judohalle, Jazz in E entwickelte sich aus den Wegen zur Gewaltfreiheit und der Garage. Zunächst wurde in der Kultur viel über ABMs und SAMs geregelt. Manche Gruppen begannen, offensiv Dienstleistungsstrukturen anzubieten, etwa als Träger für die Schulsozialarbeit. Die Stadt hat die freie Förderung forciert an Stelle kommunaler Institutionen.
Seit 2009, seit der 6. Ausgabe, heißt das Filmfest Eberswalde Provinziale.
Seitdem liegt der Fokus auf Filmen, die sich mit der Provinz beschäftigen, in denen der provinzielle Lebensraum nicht nur Kulisse ist, sondern ein Mitspieler, der die Akteure beeinflusst.
Oft gilt Provinz als negativ besetzter Begriff, und zunächst sei die lokale Resonanz auf den neuen Namen in diese Richtung gegangen: „Warum macht Ihr Euch so klein?“ – so sagt es mir Sascha, als wir im Filmfestbüro in der Eisenbahnstraße Kaffee trinken. Vielleicht stand am Anfang Ironie neben dem Selbstbewusstsein. Auf jeden Fall war es ein emanzipativer Schritt, mit dem das Filmfest sich den kulturellen Hierarchien zwischen Provinz und Metropole gegenüberstellte. Klar ist, die Provinz bietet den großen Vorteil, zum selber Machen, selber Kümmern, selber Ausprobieren zu erziehen. Sie erzieht zur eigenen Initiative und weniger zur Idee des Kulturkonsums.
Kenneth Anders schreibt im Vorwort zum Programmheft des 6. Filmfestes, in dem er den Namen Provinziale begründet:
Die Provinzen der ganzen Welt rücken zusammen wie Menschen, die einander etwas zu erzählen haben. Sie berichten, welches Leben sich abseits der großen Marktplätze abspielt.
Wer einmal gelernt hat, mit Neugier in die Provinz zu schauen, wird sich nicht satt sehen können. Es ist ein Abenteuer, eine Denkaufgabe – und ein Kaleidoskop an verschiedenen menschlichen Versuchen, das Leben gelingen zu lassen.
Als erstes kam der Finowkanal, der Odergewässer und Havelgewässer verbindet. Vor dem dreißigjährigen Krieg gebaut, verwahrlost, instandgesetzt.
Mit ihm verbindet sich die Poesie der großen Eberswalder Industrie. Kupferhammer, Messingwerk, Eisenspalterei. Papierfabrik, Walkmühle und Hufnagelfabrik. Ich versuche, mir vorzustellen, was zuerst da war. Die Hufnagelfabrik hätte ich an die Anfänge der industriellen Besiedlung gelegt, aber falsch, erst um 1870 wurde eine Maschine zur Fertigung von Hufnägeln erfunden, bis dahin von Hand geschmiedet. Die Linoleumfabrik kaufte 1913 ausgerechnet der Besitzer der Delmenhorster Linoleumfabrik und legte sie umgehend still. In der großen Eisengießerei in Britz wurden Schiffsdieselmotoren gegossen und später Rotornaben für Windkraftanlagen. Die Chemische Fabrik Eberswalde stellte Tapetenkleister und Camphen her. Leuchtenbau, Rohrleitungsbau, Kranbau. Der Leuchtenbau produzierte exklusiv den Suezkanalscheinwerfer. Krane aus Eberswalde stehen in den Häfen von Kaliningrad und Korea, Vietnam und Marokko.
Zur Industriegeschichte gehören auch Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, Reparationen und Volkseigentum, Treuhand und Abwicklung, Globalisierung und Arbeitskampf. Die chemische Fabrik stand ungefähr da, wo jetzt der Parkplatz und das Fitnessstudio sind.
Mit Thomas besuche ich an einem klaren, frostigen Sonnabend die 765. Ausgabe von Guten Morgen Eberswalde.Guten Morgen Eberswalde beginnt um 10:30 Uhr. An diesem Sonnabend spielt Cosmo Krause Banjo und singende Säge, tritt die Kamila Group mit einer Feuerfächer-Choreografie auf, singt der Fahlberg Chor mit uns Frühlings- und Friedenslieder. Neben den Musikern, neben denen, die etwas darbieten, steht Udo. Seit 765 Sonnabenden. Er verbindet souverän seinen Glauben an offene Angebote für alle mit seiner Erfahrung mit ausgesuchter Musik und seinem Anspruch an ein gutes Programm. „Man wird erzogen. Von Udo,“ sagt Lars dazu. Wir dürfen bleiben und auf der Parkbank an der Künstlerversorgung teilhaben, Croissants und Kaffee.
Kontinuität und Verlässlichkeit in der selbstorganisierten Kulturproduktion, das kann man hier lernen. Ich frage Udo, ob es ihn manchmal belastet, dieses große Maß an Selbstverpflichtung. Scheint nicht so zu sein, jedenfalls gibt Udo keine ordentliche Antwort, und er hat natürlich Recht: Wenn man es so will, macht man es so, und daran formt sich das eigene Leben.