Das Museum gibt Auskunft über die zu vermutende ökonomische Lage der ehemaligen Bewohner der ausgestellten Bauernhöfe. Es gibt Tiere, es riecht nach Stall, es gibt Getreidefelder und Gärten mit Küchenpflanzen, unter ihnen der Schwarzkümmel.
Kategorie: Lublin
LUBLIN Das Wesen Bałagan
Bevor ich nach Lublin fahre, gibt Marek mir eine Einführung in die Stadt. Unter anderem erzählt er mir von der polnischen Toleranz gegenüber zwischenmenschlicher Unklarheit und von den positiven Begriffen für das, was bei uns Unordnung heißt. Ich bitte ihn, darüber etwas zu schreiben.
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Es gibt Momente in meinem deutschen Alltag, in denen ich mir schmunzelnd meiner Sprachprägung bewusst werde und froh bin, in Lublin aufgewachsen zu sein, in der Handelsgrenzstadt mit unzähligen kulturellen und sprachlichen Einflüssen … Ein sicherer Kandidat für einen dieser Momente ist der sprachliche Umgang meiner Eltern mit … ja, da fängt schon das Problem der Unübersetzbarkeit an … mit so etwas wie deutscher ´Un-Ordnung´. Die wörtliche Entsprechung im Polnischen, ´nie-porządek´ [ńe-požõndek], habe ich als Kind nie gehört und wird meines Wissens so gut wie nie benutzt. Mein Vater wirkte genervt, wenn er die Un-Ordnung zum Beispiel des Kinderzimmers, den nieporządek, anmahnte. Doch bei seiner nahezu liebevollen Wortwahl – bajzel [bai ̯zel], bardak [bardak] oder barłóg [baru̯uk] – wirkte er dann doch recht verspielt. Die Worte schienen ihn bereits beim Aussprechen mit der, nennen wir es, Un-Reihung wieder zu versöhnen. Die Un-Positionierung der Gegenstände im Raum durfte meist bestehen bleiben. Als hätte sie durch die schönen, exotisch klingenden Namen eine Legitimation bekommen. Doch den Begriff ´bałagan´ [bau̯agãn], den meine Mutter benutzte, mochte ich am meisten. Dieses Wort schien mir ein mit uns wohnendes Wesen zu beschreiben, ich nannte ihn bałagan. Ein Wesen, das dafür sorgt, dass die Positionierung der Gegenstände weich den Verwicklungen des Lebens folgt, und nicht irgendwelchen starren Prinzipien. Der Blick in die eine oder andere Schublade, Kellerkiste oder notfalls in das Münzfach eines Portemonnaies und ich sehe ihn, den bałagan … schmunzelnd. Das deutsche Wort ´Ordnung´ existiert im Polnischen ebenfalls. Dass ´ordnung´ [ordnunk] (mit einem rollenden ´r´ und einem klaren ´k´ am Ende, schön polnisch ausgesprochen) nichts ist, was das Leben verbessert, darin waren sich damals in der Familie alle einig. Übrigens, im Polnischen existieren zwei Begriffe für Ordnung: der oben erwähnte ´porządek´ (wörtllich ´Aneinanderreihung´) und ´ład´ (eine Substantivierungsform von schön). Ordnung als Verschönerungsversuch: ich höre meine Mutter sagen: „Marek, mach´s dir bitte bisschen schöner!“
LUBLIN Markt im August
Marek bringt mir bei, wie ich auf dem Markt Kartoffeln, Pilze und neue Äpfel kaufe. In der Nähe der Märkte verkaufen Männer und Frauen ihre Produkte in den Hauseingängen und auf dem Bürgersteig. Frische Pilze, getrocknete Pilze, Himbeeren, Dill. Mein Wechselgeld wird sorgfältig abgezählt. Ich bilde mir ein, an der Sorgfalt zu erkennen, welchen Wert die kleinen Beträge für die Verkäufer haben.
LUBLIN Galeria Labirynt
Die Galeria Labirynt ist das städtische Ausstellungshaus Lublins für zeitgenössische Kunst, und sie ist Anlaufpunkt und Dach für alle, die sich der kulturellen Normierung entziehen und entgegenstellen. Sie bietet künstlerischen Initiativen Raum und Resonanz, die politisch Partei beziehen, sie steht gemeinsam mit ihnen im Widerstand. Waldemar Tatarczuk, ihr Direktor, nimmt mit mir vor einer Wand in der zukünftigen Bar der Galerie Aufstellung, um die Übergabe meines Delmenhorster Gastgeschenks aufzuzeichnen, Krystian Kamiński filmt. (Video unten)
Wioletta Stępniak stellt die Galeria Labirynt und ihre Aufgabe in der Galerie vor. Sie bedient sich der polnischen Gebärdensprache und erklärt, wieso auch die Gebärdensprache nicht universell, sondern an Sprachen gebunden ist. (Video oben)
LUBLIN Jarmark Jagiellonski
Wenn ich mit den Kunsthandwerkerinnen auf dem Jarmark Jagiellonski sprechen wollte, haben wir schnell nach einem jüngeren Menschen gesucht, der uns über englische Übersetzung in Verbindung bringen konnte. Oder die Frauen haben ihre Töchter angerufen und das Telefon zwischen uns gelegt, mit dem gleichen Effekt.
Von Teresa Pryzmont kaufe ich einen großen Wandteppich: Nadelbäume mit hängenden Ästen und Wurzelstöcken in räumlicher Darstellung.
Von Iwona Barecka kaufe ich ein Gehänge aus Stroh und Papier, das man zu Weihnachten und zu Ostern herstellt und aufhängt. Nach dem Fest verbrennt man es und macht ein neues. Meine Wahl trifft auf eines in allen Farben außer ultramarinblau, denn ultramarin verblasst zuerst.
LUBLIN Nachbarländer
Am selben Tag gehen wir zu Roman Krawczenko. Sein Fotostudio liegt an einer Treppe, die hoch zur Altstadt führt. Das Wasser läuft über die Stufen, wir schütteln unsere Regenschirme. Roman macht Fotos von uns in einer Technik, die Zelluloid durch Fotopapier ersetzt. Auf diese sparsame Art haben wandernde Fotografen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fotografiert: Sie zogen über Land, eine gemalte Kulisse mit einer Schlosstreppe im Gepäck, und boten an, einzelne und Familien davor zu portraitieren.
Roman hat sein Haus auf der Krim verlassen und ist nach Polen geflohen. Er spricht russisch mit mir, weil ich kein polnisch verstehe. Russisch ist seine erste Sprache, aber jetzt, in Polen, spricht er es nicht mehr gern. Als Ukrainer russisch zu sprechen ist zu einem Statement geworden, es wird als Bekenntnis gelesen zur Annexion der Krim. Roman zu unterstützen wiederum scheint mir auch ein Bekenntnis zu sein: zur Solidarität mit den Nachbarländern, zum Widerstand gegen die russische Macht.
LUBLIN gesammelte Bücher
niestety bez polskiego tłumaczenia
Die Animal Farm von George Orwell ist auf einen Hinweis von Iwan in diese Sammlung gekommen. Er arbeitet im Haus der Worte, Dom Słów. Das Dom Słów ist dem geschriebenen und gedruckten Wort als Medium des Widerstandes gewidmet. Die Animal Farm sei in sozialistischer Zeit viel gelesen worden.
Marek empfiehlt mir Król von Stefan Twardoch, in deutscher Übersetzung von Olaf Kühl erschienen im Rowohlt Berlin Verlag 20218 unter dem Titel Der Boxer. Król heißt König, ein leicht zu übersetzendes Wort und ein besserer Titel, finden wir. Auch an der Gestaltung der deutschen Fassung haben wir viel auszusetzen, verglichen mit der Gestaltung des Originals. Wir kommen auf dieses Buch, weil ich Marek von meinem Besuch der Gedenkstätte des KZ Majdanek erzähle. Es war ein fahler Sonntagnachmittag, die Gedenkstätte gut besucht von polnischen Familien und Gruppen junger Menschen. Wir unterhalten uns darüber, wie verschieden mein Empfinden von Majdanek nur sein kann von dem eines polnischen Besuchers. Das Buch Król habe ihn viel gelehrt über das Zusammen- und Nicht-Zusammenleben von Juden und Polen vor dem zweiten Weltkrieg.
Auf Anraten von Marek, dem Freund von Marek, den ich aus Berlin kenne, lese ich Dorota Masłowska, Schneeweiß und Russenrot, übersetzt von Olaf Kühl 2004. Erzählt aus der Perspektive von Andrzej, und Andrzej ist auf Drogen. Er bedient sich, sagt Marek, der polnischen Vulgärsprache, in der man ausgezeichnet fluchen könne, die zwar verpönt sei, aber umfassend, bildreich und humorvoll.
Ich lese auch Ferdydurke von Witold Gombrowicz, veröffentlicht 1937. In Mareks Beschreibung geht es um die Verweigerung der Räson der Erwachsenen, des vermeintlichen Wissens darum, wie es in der Welt so läuft und nur laufen kann, um das Pubertierende als Widerstand gegen diese zweifelhafte Vernunft. Wie hat uns das Gespräch dahin gebracht – über das Wort Balagan, über die Unordnung als Wert, über Unordnungssysteme, über die polnische Toleranz für zwischenmenschlichen Unfrieden und die Unwahrheit, über die Verweigerung des Müssens und der Kontrolle.
Immer mal wieder bringe ich an, Die Jakobsbücher von Olga Tokarzcuk gelesen zu haben und bilde mir ein, dass es mir Anerkennung einbringt als ernstzunehmende Leserin. Es spielt in einem weiten Raum zwischen Istanbul und dem Südosten Polens, in einer vielfältigen, multi-ethnischen, transnationalen Welt. Jarkas liebstes Buch von Olga Tokarzcuk ist Scafa, auf Deutsch erschienen als Schrank.
Lublin liegt nah an der Ukraine, nah an Belarus. Es ist vielen wichtig, die kulturelle Nähe zu diesen Ländern zu betonen. Als Botschafterin und Korrespondentin soll ich das mitnehmen: Europa endet nicht mit der polnischen Ostgrenze, und was dort politisch passiert, geht uns etwas an. Dafür steht auch Reise nach Babadag von Andrzej Stasiuk. Zwar geht es von Reisen nach Rumänien, Ungarn und Albanien in den neunziger Jahren aus, aber es handelt doch von der Peripherie, von „kleineren, schlechteren Ländern“.
LUBLIN Verkehr und Prestige
Stoppelfelder auf dem Weg nach Warschau, Stoppelfelder auf dem Weg nach Lublin. Nur der Mais steht noch. Ich sehe kleine, nicht im rechten Winkel angelegte Felder, das muss bei uns selten sein, warum sonst würde es mir auffallen. Bekanntlich wurde in Polen die Landwirtschaft nicht kollektiviert und nach dem, was ich lese, sind auch heute die Betriebe klein.
Im Südosten, wo Lublin liegt, beginnt das Reich der Schwarzerden. Aus dem Zugfenster sehe ich Apfelspaliere, Zuckerrüben und Hopfen. Marek ist Dolmetscher und hat unter anderem für deutsche Brauereiverbände gearbeitet, die gekommen sind, um Hopfen zu kaufen. Das seien sympathische Kunden gewesen.
Eigentlich, sagt Marek in Berlin, hätte ich mit dem Auto fahren sollen. Das Auto, die Schnellstraßen und der Flughafen hätten deutlich mehr Prestige. Viele Leute, die ich kennen lerne, machen sich lustig über den vermeintlichen Stolz der Polen auf neue Straßen. Einmal frage ich in der Touristenauskunft nach dem richtigen Bus zum Freilichtmuseum am Stadtrand, hinter der Autobahn nach Warschau. Ich könne auch zu Fuß gehen, wird mir gesagt, kein Problem, die Straße sei neu geteert.
LUBLIN Resilienz durch Freundschaft
Ich treffe Krzysztof Stanowski im Zentrum für Internationale Kooperation. Jarka begleitet mich, und zusammen rennen wir durch den strömenden Regen. Krzysztof Stanowski hat verschiedene NGOs gegründet und geleitet, er war stellvertretender Minister für Erziehung und stellvertretender Außenminister. Wikipedia nennt außerdem und als erstes seinen Vorsitz über die polnischen Pfadfinder.
Wir haben ein schönes Gespräch. Krzysztof Stanowski liegen Solidarität und Begegnung am Herzen, er glaubt an die Kraft transnationaler Freundschaften als Friedenssicherung von unten, als Resilienz, wenn auf die Staatsregierungen und ihre Entscheidungen kein Verlass ist. In der Führung mag manches schiefgehen, so lange es eine breite Basis von gegenseitigem Verständnis gibt, siegt der Widerstand. Bottom-up statt top-down.
Wir stehen beide auf, als ich mein Gastgeschenk übergeben möchte, und Krzysztof Stanowski findet schöne Worte, um es anzunehmen. Er erzählt mir auch, dass er selber sticken würde, denn in seiner Familie sei es Tradition, dass der Großvater die Taufkissen für die Enkel stickt, und zeigt mir so persönlich und gewandt, dass er das Handwerk und die Gestaltung einer Tischdecke zu schätzen weiß. Ich bekomme ein Buch mit Lyrik und Prosa, die von Lublin handeln, und Leerstellen dazwischen für eigene Texte.
LUBLIN Mały Konspirator
Das Dom Słów ist dem geschriebenen und gedruckten Wort als Medium des Widerstandes gewidmet, es zeigt Drucktechnik und Tricks des do-it-yourself-Druckens, Bücher, Flugblätter, Zeitungen und Poster, die zum großen Teil illegal im Widerstand gegen die Zensur der Staatsmacht produziert wurden. Ein kleines kompaktes Buch im Hosentaschenformat, Mały Konspirator, gibt Anleitung dazu, aktiv in die Untergrunddruckerei einzusteigen, sowohl technisch als auch psychologisch, im Umgang mit Angst, Nachbarn und Verhören.
INHALTSVERZEICHNIS
WIE PLÄNE AUSHECKEN. Leitfaden für Anfänger und Fortgeschrittene……… S. 3
Der Anfang. Der Untergrund. Das Geschäft. Die Ware. Das Geld. Die Treffen. Die Verbindungsleute. Die Notizen. Die Telefonate. Der (Brief-)Kasten. Der Geldwechsel. Die Wechselstube. Die Schließfächer. Das Löschpapier/Illegale Schriften. Die Polizei. Der Schwanz. Der Kessel. Die Falle. Der Sitz/Absitzen. Der Schmerz. Die Kultur. Die Angst. Der Geist. Mystifizierung/Verblüffung. Die Manien. Die Übertragung. Die Freiheit.
DER BÜRGER UND DER STAATSSICHERHEITSDIENST. Ausgabe, vervollständigt um Kriegstechniken ……… S. 14
Die Aufforderung. Das Anhalten. Die Durchsuchung/die Revision/. Das Verhör.
DAS SPIEL DER ERMITTLUNGEN……… S. 23