LUBLIN Das Wesen Bałagan
Lublin

Bevor ich nach Lublin fahre, gibt Marek mir eine Einführung in die Stadt. Unter anderem erzählt er mir von der polnischen Toleranz gegenüber zwischenmenschlicher Unklarheit und von den positiven Begriffen für das, was bei uns Unordnung heißt. Ich bitte ihn, darüber etwas zu schreiben.

Es gibt Momente in meinem deutschen Alltag, in denen ich mir schmunzelnd meiner Sprachprägung bewusst werde und froh bin, in Lublin aufgewachsen zu sein, in der Handelsgrenzstadt mit unzähligen kulturellen und sprachlichen Einflüssen … Ein sicherer Kandidat für einen dieser Momente ist der sprachliche Umgang meiner Eltern mit … ja, da fängt schon das Problem der Unübersetzbarkeit an … mit so etwas wie deutscher ´Un-Ordnung´. Die wörtliche Entsprechung im Polnischen, ´nie-porządek´ [ńe-požõndek], habe ich als Kind nie gehört und wird meines Wissens so gut wie nie benutzt. Mein Vater wirkte genervt, wenn er die Un-Ordnung zum Beispiel des Kinderzimmers, den nieporządek, anmahnte. Doch bei seiner nahezu liebevollen Wortwahl – bajzel [bai ̯zel], bardak [bardak] oder barłóg [baru̯uk] – wirkte er dann doch recht verspielt. Die Worte schienen ihn bereits beim Aussprechen mit der, nennen wir es, Un-Reihung wieder zu versöhnen. Die Un-Positionierung der Gegenstände im Raum durfte meist bestehen bleiben. Als hätte sie durch die schönen, exotisch klingenden Namen eine Legitimation bekommen. Doch den Begriff ´bałagan´ [bau̯agãn], den meine Mutter benutzte, mochte ich am meisten. Dieses Wort schien mir ein mit uns wohnendes Wesen zu beschreiben, ich nannte ihn bałagan. Ein Wesen, das dafür sorgt, dass die Positionierung der Gegenstände weich den Verwicklungen des Lebens folgt, und nicht irgendwelchen starren Prinzipien. Der Blick in die eine oder andere Schublade, Kellerkiste oder notfalls in das Münzfach eines Portemonnaies und ich sehe ihn, den bałagan … schmunzelnd. Das deutsche Wort ´Ordnung´ existiert im Polnischen ebenfalls. Dass ´ordnung´ [ordnunk] (mit einem rollenden ´r´ und einem klaren ´k´ am Ende, schön polnisch ausgesprochen) nichts ist, was das Leben verbessert, darin waren sich damals in der Familie alle einig. Übrigens, im Polnischen existieren zwei Begriffe für Ordnung: der oben erwähnte ´porządek´ (wörtllich ´Aneinanderreihung´) und ´ład´ (eine Substantivierungsform von schön). Ordnung als Verschönerungsversuch: ich höre meine Mutter sagen: „Marek, mach´s dir bitte bisschen schöner!“