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Borisoglebsk

BORISOGLEBSK Alles Banditen

Samstagabend im Kafé Barbaris, zwischen den Tischen wird getanzt. Julia setzt sich neben mich. Sie fragt, ob ich Anja sei, die Anja aus Deutschland, die heute das Haus des Kindes besucht hat und von der ihre Tochter erzählt habe, eines der Mädchen aus der Volkstanzgruppe. Julia ist Krankenschwester und hat 1998 Delmenhorst besucht. Die neunziger Jahre seien eine schwere Zeit gewesen. Alles Banditen, schreibt sie in mein Heft; wir schreiben beide ein bisschen, denn die Musik ist laut und wir verstehen uns schwer. Später wird mir ein Glas Wodka gebracht, ich werde vom DJ begrüßt und soll das Glas vor aller Augen austrinken. Es ist Wasser im Glas, von einer rücksichtsvollen Frau vorsichtshalber an Stelle des Wodkas eingeschenkt, damit ich nicht dumm dastehe, falls ich so viel Wodka nicht auf einen Zug trinken kann. Julia holt mich auf die Tanzfläche und übergibt mich einem Boris oder Denis, ich kann den Namen schwer hören. Wir tanzen noch ein bisschen weiter, auf dem Tisch finde ich eine Nachricht von Anna, der Kellnerin an diesem Abend, mit ihrer Telefonnummer. Ich gehe über den Ploschad Lenina durch die Schneereste und Pfützen nach Hause ins Hotel.

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Borisoglebsk

BORISOGLEBSK Abreise

Am Vortag meiner Abreise, dem 23. Februar, wird der Tag des Verteidigers des Vaterlandes begangen, früher Tag der Roten Armee, dann Tag der Sowjetarmee und der Seestreitkräfte. Der Tag werde empfunden als Pendant zum Internationalen Frauentag am 8. März, sagen meine Freunde beim Abschiedsessen. Ein Tag für die Frauen, ein Tag für die Männer. Zur Frühstückszeit zeigt das Fernsehen an diesem Tag Veteranenbesuche, vorbildliche Väter und Serviervorschläge für belegte Brote in Krawattenform. Im Bewusstsein aller Frauen am Tisch sei der Internationale Frauentag von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg begründet worden, sei also von uns in Deutschland zu ihnen gekommen.

Am Morgen darauf wird die Ukraine bombardiert. Valentina begleitet mich mit dem Fahrer auf der langen Fahrt nach Woronesch, sie hat Tee und ein Picknick dabei, sie sitzt neben mir und wartet, bis ich hinter der Sicherheitskontrolle verschwinde. Ich fliege nach Moskau, ich übernachte am Flughafen, ich fliege nach Hause. Alle erkundigen sich bei mir, ob ich gut geflogen bin.

Zum internationalen Frauentag schicken wir uns Glückwünsche und Bilder von Blumensträußen. In Berlin scheint die Sonne, in Borisoglebsk schneit es wieder.

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Lublin

LUBLIN Das Wesen Bałagan

Lublin

Bevor ich nach Lublin fahre, gibt Marek mir eine Einführung in die Stadt. Unter anderem erzählt er mir von der polnischen Toleranz gegenüber zwischenmenschlicher Unklarheit und von den positiven Begriffen für das, was bei uns Unordnung heißt. Ich bitte ihn, darüber etwas zu schreiben.

Es gibt Momente in meinem deutschen Alltag, in denen ich mir schmunzelnd meiner Sprachprägung bewusst werde und froh bin, in Lublin aufgewachsen zu sein, in der Handelsgrenzstadt mit unzähligen kulturellen und sprachlichen Einflüssen … Ein sicherer Kandidat für einen dieser Momente ist der sprachliche Umgang meiner Eltern mit … ja, da fängt schon das Problem der Unübersetzbarkeit an … mit so etwas wie deutscher ´Un-Ordnung´. Die wörtliche Entsprechung im Polnischen, ´nie-porządek´ [ńe-požõndek], habe ich als Kind nie gehört und wird meines Wissens so gut wie nie benutzt. Mein Vater wirkte genervt, wenn er die Un-Ordnung zum Beispiel des Kinderzimmers, den nieporządek, anmahnte. Doch bei seiner nahezu liebevollen Wortwahl – bajzel [bai ̯zel], bardak [bardak] oder barłóg [baru̯uk] – wirkte er dann doch recht verspielt. Die Worte schienen ihn bereits beim Aussprechen mit der, nennen wir es, Un-Reihung wieder zu versöhnen. Die Un-Positionierung der Gegenstände im Raum durfte meist bestehen bleiben. Als hätte sie durch die schönen, exotisch klingenden Namen eine Legitimation bekommen. Doch den Begriff ´bałagan´ [bau̯agãn], den meine Mutter benutzte, mochte ich am meisten. Dieses Wort schien mir ein mit uns wohnendes Wesen zu beschreiben, ich nannte ihn bałagan. Ein Wesen, das dafür sorgt, dass die Positionierung der Gegenstände weich den Verwicklungen des Lebens folgt, und nicht irgendwelchen starren Prinzipien. Der Blick in die eine oder andere Schublade, Kellerkiste oder notfalls in das Münzfach eines Portemonnaies und ich sehe ihn, den bałagan … schmunzelnd. Das deutsche Wort ´Ordnung´ existiert im Polnischen ebenfalls. Dass ´ordnung´ [ordnunk] (mit einem rollenden ´r´ und einem klaren ´k´ am Ende, schön polnisch ausgesprochen) nichts ist, was das Leben verbessert, darin waren sich damals in der Familie alle einig. Übrigens, im Polnischen existieren zwei Begriffe für Ordnung: der oben erwähnte ´porządek´ (wörtllich ´Aneinanderreihung´) und ´ład´ (eine Substantivierungsform von schön). Ordnung als Verschönerungsversuch: ich höre meine Mutter sagen: „Marek, mach´s dir bitte bisschen schöner!“

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Kolding

KOLDING Kategorien beim Ausstellen

Im Museum Trapholt wird eine große Ausstellung mit Raumgestaltungen von Verner Panton vorbereitet. Nina gibt mir eine Führung. Leider hat sie wenig Zeit, weil der Besuch von Marianne, der Witwe Pantons, erwartet wird. Mir ist jedoch unser Gespräch über das gleichberechtigte, nicht zuordnende Ausstellen von Kunst und Design in Erinnerung, wie es im Museum Trapholt praktiziert wird und wie es, Nina zufolge, in den angelsächsischen Ländern, schon gar aber im fernen Osten selbstverständlich sei.

Für die Ausstellung in Delmenhorst bemale ich eine Platte mit einem Teppichmuster Pantons.

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Kolding

KOLDING Sensommervise

Am ersten Morgen in Kolding besuchen mich Finn und Herdis, die vor vielen Jahren mit einer Volkstanzgruppe in Delmenhorst zu Gast waren. Diese Gruppe wurde 1932 gegründet, gemeinsam mit vielen anderen Volkstanzgruppen, angeregt durch die Sammlung von Tänzen und Musik aus allen dänischen Provinzen Ende der zwanziger Jahre. Ich versuche, mir die Reiseumstände dieses Sammelns vorzustellen, die Verkehrsmittel, Versammlungsorte und Aufzeichnungstechnik. Die meisten Tänze hätten sich aus den Tänzen des französischen Hofes entwickelt, der bekanntlich lange Zeit stilbildend für die Höfe anderer Teile Europas war, und seien von den Höfen ins allgemeine Kulturgut übergegangen. Wenn der höfische Tanz zum Volkstanz wurde, was war da vorher?

Heute gehen Finn und Herdis zu einem Vortrag im OK-Klubben.  Jeder Nachmittag im OK-Klubben wird begonnen und beendet mit einem Lied. Das wäre ihnen bei Besuchen in Deutschland aufgefallen: In Dänemark wird mehr gesungen.

Die These scheint sich zu bestätigen. Morten weist mich bei seiner Führung durch das Dänische Museum der Krankenpflege auf das Klavier hin, das zum Inventar jedes dänischen Krankenhauses gehörte und in dessen Begleitung die Schwestern früher morgens und abends für die Patienten sangen.

Ein wichtiges Liederbuch ist der Højskolesangbogen, erstmals veröffentlicht 1894, heute in seiner 19. Auflage. Es wird herausgegeben von der Folkehøjskole, dem dänischen Beispiel aller Volkshochschulen, begründet von N. F. S. Grundtvig, nach dem Stiftungen, Vereine und EU-Programme benannt sind. Sein Name verbindet sich mit der Idee des lebenslangen Lernens aller und einer pädagogischen Beziehung, bei der jeder Lehrer und Schüler ist.  Das Vertrauen auf unhierarchische Beziehungen und das Gemeinwohl ist präsent in Kolding, schwer zu beschreiben, unauffällig, entspannend.

Im Museum Trapholt werde auch heute jede Woche mit gemeinsamem Singen begonnen, sagt Rikke. Dann singt sie mir die ersten Zeilen von Sensommervise vor, dem Sommerhit von 2021.

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Kolding

KOLDING Architektur

Vom Rathausturm hat man einen Überblick über die Stadt. Die alten Innenstadtstraßen, der Hafen, und unweit des Hafens die ambitionierten Neubauten der Hochschulen und Unternehmen.

Es ist Nachmittag und verschiedene Ruderclubs machen sich bereit zum Jugendtraining auf dem Fjord. Ich zeichne die schöne Architektur eines Studentenwohnheims, in Neugier darauf, ob sie sich auf der Zeichnung unterscheiden lässt von einer Zeichnung eines beliebigen Plattenbaus.

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Allonnes

ALLONNES Cadets de la Sarthe

Immer am Sonntagmorgen proben die Cadets de la Sarthe in der Maison des Arts. Ihre Freundschaft zum DTB Musikzug Delmenhorst gibt der Beziehung beider Städte viel Kontinuität.

Einmal darf ich zuhören. Geprobt werden: Battle of the Dinosaurs, Pixar Movie Magic, Aladdin und Kirkpatricks Muse, viel Filmmusik also, die sich gut für Blasorchester eignet.

Zur Hälfte der Probe wird Kaffee getrunken, ab jetzt auf der Tischdecke aus Delmenhorst. Die KD schicken mir dieses schöne Foto eines Kaffeepausenstillebens.

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Eberswalde

EBERSWALDE Geschlachteter Ochse

In der Kantine des Schlacht- und Verarbeitungskombinats Eberswalde-Britz gab es ein Gemälde im Stil von Willi Sitte oder gar von ihm selber, das einen hängenden geschlachteten Ochsen zeigte, ein traditionsreiches Motiv in der Malerei. Da wurde den Arbeitern noch in der Pause bestätigt, was sie ohnehin den ganzen Arbeitstag gesehen haben, hat Lars gesagt. Das Gemälde ist nach Auflösung des Kombinats verschwunden.

Das Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde-Britz war der größte Schweinefleischproduktions- und verarbeitungsort Europas.

Ein Paket mit Würsten vom Nachfolgerbetrieb Eberswalder Wurst und Fleisch war ein beliebtes Gastgeschenk in Delmenhorst.

Als Platzhalter für das nicht mehr auffindbare Gemälde hier „Fleischstand in Alt-Peking“ von Willi Sitte, 171 x 148 cm, Nationalgalerie Berlin.

bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

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Lublin

LUBLIN Markt im August

Marek bringt mir bei, wie ich auf dem Markt Kartoffeln, Pilze und neue Äpfel kaufe. In der Nähe der Märkte verkaufen Männer und Frauen ihre Produkte in den Hauseingängen und auf dem Bürgersteig. Frische Pilze, getrocknete Pilze, Himbeeren, Dill. Mein Wechselgeld wird sorgfältig abgezählt. Ich bilde mir ein, an der Sorgfalt zu erkennen, welchen Wert die kleinen Beträge für die Verkäufer haben.

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Eberswalde

EBERSWALDE Pioniere

Die Birke gehört zu den Pionierbaumarten, sie ist oft der erste Baum, der auf einer Freifläche wächst. Ich habe das Bild einer Birke für Eberswalde ausgewählt, weil Torsten Stapel einen Birkenwald zwischen Finow und dem Tierpark erwähnt, dort, wo in den 70er Jahren das Brandenburgische Viertel gebaut wurde. Weil viel vom Abreißen und neu Bauen die Rede ist, von Freiflächen, Freiräumen und ihrer Inbesitznahme, physisch wie kulturell.